Wie Parallelen
Martin Breindl
Eröffnungsrede für die Ausstellung/Lesung Petra Coronato, Liesl Ujvary, Christiane Zintzen
Galerie Wechselstrom, 11.05.2010.
„Wie Parallelen sind meine zwei Seelen“, singt Moritz ®, Sänger der experimentellen NDW-Band Der Plan Anfang der 1980er-Jahre: „Wie Parallelen sind meine zwei Seelen. Ich kann weiter seh’n, ich bin schizophren.“
Parallelen sind zwei Geraden, die in einer Ebene liegen und nichts miteinander zu tun haben wollen, einander in keinem Punkt berühren. Jedoch, so sagt uns die Geometrie, schneiden auch sie sich – aber erst in der Unendlichkeit.
Analog dazu könnte man sagen, dass das Wort Parallelkonzepte Handlungsstränge und Tun bezeichnet, die zwar in die gleiche Richtung gehen, jedoch vordergründig nichts miteinander zu tun haben. Erst in der Unendlichkeit [ metaphorisch: im Ungewissen ] fallen sie sozusagen zusammen und werden als zusammenhängend wahrnehm- und somit erklärbar.
Wenn wir mit digitalen Geräten arbeiten, verwenden wir immer Aufschreibungsapparate. Auch eine Digitalkamera bildet nicht mehr im klassischen Sinn ab, sondern schreibt auf. Indem sie das durch die Linse auf einen Computerchip fallende Licht in einem Binärcode festschreibt. Erst im zweiten Schritt wird der Code dann auf ein Ausgabemedium gerendert – etwa das Kameradisplay – und somit wahrnehmbar gemacht. Ähnlich beim Dichten. Der in die Computertastatur gehämmerte Text wird nicht als solcher, wie auf einer Schreibmaschine, gespeichert, sondern als sein Binärcode. Der am Computerschirm wahrgenommene Text ist bereits wieder seine Rückübersetzung in verständliche Sprache.
In der digitalen Domäne sind somit, rein technisch gesehen, das Fotografieren und das Schreiben Parallelkonzepte, weil sie den gleichen Code [ den Binärcode, den Universalcode ] bedienen.
Man könnte natürlich gerechtfertigterweise sagen, ein Unterschied, der nicht wahrnehmbar ist, wäre auch keiner. Das mag schon stimmen, zumindest so lange, bis kein Fehler im Binärcode auftritt – und ein vermeintliches Foto plötzlich nicht mehr als Foto erscheint. Oder etwa versuchen Sie mal einen deutschen Text mit einer auf englische Schreibweise eingestellten Tastatur zu verfassen. Auch nicht sehr einfach.
Aber nicht nur in technischer Hinsicht verändern die digitalen Medien die auf ihrer Grundlage produzierten ästhetischen Ereignisse. Ich habe einmal gehört, dass es in früheren Zeiten in Indien üblich war, sich nur ein einziges Mal im Leben fotografieren zu lassen. [ Was wäre der Zeitpunkt, den Sie wählen würden, gäbe es nur eine einzige Chance? Wenn Sie jung sind? Ein Kind? Zur Hochzeit? Zur Promotion? Zur Überreichung des Nobelpreises an Sie? – Es wäre schwierig jedenfalls. Und ich könnte mir schon vorstellen, dass viele auf den richtigen Zeitpunkt zu lange warten würde. Und plötzlich wäre das Leben vorbei. ]
Mit der Kompaktfotografie und noch viel stärker mit der Digitalfotografie jedoch kam es zu einer Umkehrung: Nicht mehr eines, nicht mehr wenige, auch nicht viele – massenhaft, immerzu wird fotografiert. Nicht mehr nur von der Wiege bis zur Bahre, nein: vom Ultraschallbild des Ungeborenen an; und es würde mich nicht wundern, ließen manche auch noch eine Stillkamera in den Sarg einbauen, um ihren eigenen Verwesungsprozess zu dokumentieren [ wie Peter Greenaways in „ZOO“ angedeutet hat ]. Und so verändert sich mit der Technik das Bild vom Menschen, das wir uns machen: nicht nur ein prägnantes [ ein „historisches“ ] Portrait definiert uns [ ein Hinweis auf den „unveränderlichen Menschen“, den Homo Clausus ], sondern unser Leben wird ein Animationsfilm, aus Einzelbildern zusammengestellt, ein Bilderstrom: Ich werde aufgezeichnet also bin ich.
Parallel dazu die Textproduktion. Oder wie könnte man sich zum Beispiel Christiane Zintzens interessanten Blog In|ad|ae|qu|at anders als einen aus dem digitalen Medium und seiner Vernetzungsmöglichkeit ausapernden permanenten Sprachwerdungsstrom vorstellen? Der sie selbst und die Menschen um sich und ihre Handlungen fortschreibt. Das ist kein klassisch-traditionelles lyrisches Ich mehr, das in einsamer Kontemplation den Augenblick „verweile doch“ herbeisehnt. Im Gegenteil: Ich werde aufgeschrieben also bin ich.
Auch hier – in der Konstruktion des Menschen[bildes] – Parallelkonzepte.
// Schnitt //
„Im Kommunalen, im Versorgungsbau entwirft sich jede Epoche neu. Bentham, Bauhaus, Billa: Jede Superstruktur gestaltet ein System von Körpern und inkorporiert das Selbstbild einer Gesellschaft.“ (Christiane Zintzen)
Wenn Christiane Zintzen im Anschluss In der Falle: Leib und Bau lesen wird, beschreibt sie als Parallelkonzept, worüber ihre Serie von Krankenhausbildern, in Wolkersdorf Abbildungen der psychiatrischen Station während des Nachtdienstes, hier von Schalensitzen der Wartezone im AKH, handeln: von der Auslöschung des Körperlichen durch die totale Institution.
Man sollte meinen, dass die die Medizin zum Ziel hätte, den Patienten zurück zur Körperlichkeit zu führen, aber in ihrer Institutionalisierung bewirkt sie das genaue Gegenteil: sie löscht den bzw. die Körper aus. Christiane Zintzen bemerkt als Beobachtung: „das fällt unter die rubrik der „amnesie“ , da eine solche „totale institution“ alle sichtbaren spuren der durch sie hindurchgeschleusten patienten tilgt.“
Gerade indem sie keine Körper zeigt, redet Zintzen umso deutlicher von ihnen, da sie eine Negativ-, eine „Guss“form darstellt: die Schalensitze. Wie in der Plastik: man formt einen Körper aus feuchtem Ton, dann stellt man eine Negativform her: eine Schale aus Gips, die den Originalkörper umhüllt wie eine zweite Haut. Abgenommen und in Teile zerlegt dient sie danach zur Herstellung [ einer Serie ] von standardisierten Körpern – Abgüssen des Originals.
Die Schalensitze sind quasi Negativformen der Körper die der medizinischen Verwertung zugeführt werden. Durch das Warten auf diese werden unsere menschlichen Hintern und Rücken und Körper für die Behandlung geformt, präpariert und standardisiert. Schon während des Wartens ist der Mensch als Individuum nicht mehr vorhanden. Zwar ist er noch als Körper anwesend doch zugleich schon ausgelöscht. Dieses durch die Schalensitze thematisierte Warten gehört zur Strategie der medizinischen Institution: die Unterwerfung des menschlichen Körpers unter den medizinischen. Und das zeigt Christiane Zintzen in ihren Bildern: Körper die keine mehr sind. Indem sie nur deren Negativform zeigt, weist sie stärker auf sie hin als wenn sie auf ihren Bildern tatsächlich vorhanden wären.
In Petra Coronatos Text Mein geistiges Eigentum (I) geht es um den ultimativen Roman. Ein chinesischer Schriftsteller verheddert sich anscheinend selbst in eine seiner Geschichten, sein Leben wird immer absurder und grotesker, zuerst wird seine Umgebung, dann ganz China und schließlich die ganze Welt in die Geschichte hineingezogen, bis sich herausstellt, dass der Dichter sein Leben als Roman inszeniert [ und daran zugrunde geht, was jedoch auch Teil seiner Inszenierung darstellt ]. „Ob seinen so unersetzlichen kriminaltechnischen Mitarbeitern klar war, dass sie lediglich Zulieferer für die Textproduktion sind“, fragt Petra Coronato im letzten Absatz.
Im Katalogtext schreibt Petra Coronato über ihren fotografischen Ansatz: „Ich vertrete eine rein dokumentarische Fotografie, die weder Inszenierungen des Motivs noch eine nachträgliche Bildbearbeitung erlaubt. Selbst eine Korrektur der Farben oder die Wahl des Bildausschnitts sind tabu. Dieser Ansatz unterscheidet sich sehr von dem, was ich als Schriftstellerin so treibe, wo man mir nachsagt, dass ich lüge, wenn ich den Mund aufmache.“ Wohlgemerkt: sie schreibt das. Das macht neugierig zu überprüfen, was daran wohl wahr wäre.
Wenn Coronato Berlin fotografiert, „dokumentiert“ sie ein Berlin, das sich seit 20 Jahren, seit dem Fall der Mauer, selbst inszeniert. Ich kenne kaum eine Stadt, die so weit weg von natürlicher Stadtentwicklung, von einer „normalen“ Veränderung ist wie Berlin. Die Stadt ist zum Display für die in Glas und Stahl gegossene Präsentation von globalen Konzernen, protzigen Machtinszenierungen, architektonischen Selbstdarstellungen und Zurschaustellungen konstruierter Multikulturalität und Alternativität geworden.
Coronato braucht gar nicht inszenieren, weil sich die Stadt selbst inszeniert. Es ist als ob sie ein Theaterstück fotografierte und augenzwinkernd behauptete, dies wäre die Realität [ was ein Theaterstück natürlich ja auch ist ]. „Wo immer du auch seist, sage dir dieses: Alles was um dich vorgeht, kann auch gespielt sein“, sagt Walter Serner in seiner Letzten Lockerung . In Coronatos Fotografie auch hier Parallelen zum Text: So genannte Wirklichkeit verkleistert sich mit so genannter Inszenierung in einer derartigen Weise, dass wir nicht mehr sagen können was nun realer wäre. Beziehungsweise wie Realität denn nun konstruiert sei.
Wenn SchriftstellerInnen fotografieren switchen sie in ein Parallelprogramm ihres Tuns. Diese Programme brauchen von einander nichts wissen. Sie weisen in die Unendlichkeit und lassen uns einen Schnittpunkt erhoffen:
Wie Parallelen sind meine zwei Seelen.
Mai 2010
Der Plan, Ich bin schizophren; Geri Reig (LP): Warning Records, Ata Tak, WR003, 1980
Peter Greenaway, ZOO – A Zed & Two Noughts, 1985
http://www.zintzen.org (Stand 11.5.2010)
Christiane Zintzen, In der Falle : Leib und Bau; Manuskript, 2010
Christiane Zintzen, private E-Mail, 2.5.2010
Petra Coronato, Mein geistiges Eigentum (I); Manuskript, 2010
Petra Coronato, The Poetry of Document: Berlin Diorama; in: visuell virtuell parallel – SchriftstellerInnen fotografieren, Ausstellungskatalog: FLUSS, Wolkersdorf, 2010
Walter Serner, Letzte Lockerung; München, dtv, 1984