4dimensionale Kirchturmpolitik
Heimo Ranzenbacher
Stichworte zu Liquid Music und Medienkunst im ländlichen Raum
Vortrag am 16.04.2005 anlässlich der „Strategien im ländlichen Raum II“. Von Heimo Ranzenbacher
Wir werden immer wieder gefragt, was das sei – Liquid Music.
Ich gestehe, ich verstehe die Frage noch immer nicht. Niemand fragt danach, was eine Ausstellung – etwa von Aquarellen in einer Bank – sei*.
Liquid verweist auf einen theoretischen Begriff im Diskurs der Medienkunst und bezeichnet das Ineinanderfließen voneinander unabhängiger Handlungen und „Realitätsebenen“. Music steht für eine stark an Akustik orientierte Organisation, die jedoch auch abseits konzertanter Aufführungen im Sinne eines „beziehenden Denkens“ (d. h. ohne weiteres auch tonlos) zur Darstellung kommen kann. Liquid Music ist für das „Projekt Medienkunst in Judenburg“ schlicht ein Name, bei dem ein paar Erwägungen mehr im Spiel sind als bei „Judenburger Sommer“** oder „steirischer herbst“***. Das Interesse – wenn es denn Interesse ist, dem die Frage entspringt – an den Überlegungen, die für ein „Projekt Medienkunst in Judenburg“ tatsächlich maßgeblich wären, ist hingegen weniger stark ausgeprägt.
Ich vermute, dass die vermeintliche Frage nach dem Wesen von Liquid Music (und das reale Genügen an der Erklärung des Namens) daher rührt, dass eine durch die landläufige Praxis bestätigte Vorstellung von Kunst irritiert wird. Gemeinhin erfolgt die Frage ja mit dem Unterton eines Urteils: Zawos brauch ma des?
Umgekehrt fördern meine Ausführungen, was es mit Liquid Music auf sich habe, auch nicht immer das Verständnis. Im Folgenden gehe ich daran, diese Tradition fortzusetzen ;-)
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Primär ist Liquid Music eine Projektreihe, die 1998 erstmals und seither jährlich in Zusammenarbeit mit der Stadt Judenburg durchgeführt wird und dabei Formen der Integration künstlerischen Denkens in den Alltag der Stadt lanciert: Die Utopie einer Identifikation der Stadt mit Liquid Music ist für das Projekt Programm.
Im Rahmen der jährlichen Veranstaltung werden in der Regel drei bis vier Beiträge zu einem Thema realisiert, das die Stadt als Ort oder Ressource der Erfahrung apostrophiert. Dabei handelt es sich um keine Judenburg-spezifischen, tagesaktuellen Probleme, sondern, wenn man so will, um Fragestellungen unserer – „technologischen“ – Kultur, die sich lokal manifestieren. „Technologisch“ im Sinne der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Technologie“, das für den Modus der Verbindung von Techniken (sprich Möglichkeiten und Methoden) steht.
Als für die technologische Kultur bezeichnend erscheint die Entgrenzung oder Dynamisierung ihrer (sozialen, wirtschaftlichen …) Effekte, wenn also Techniken sich zu einem Verbund formieren und ein Netz reziproker Bedingungen knüpfen, die nicht mehr auf einzelne technische Ursachen zurückgeführt werden können. Lokale Ursachen haben translokale Wirkungen und umgekehrt … In diesem Sinn sprechen wir unter anderem von Globalisierung.
Liquid Music-Themen waren beispielsweise „Stadtsignaturen“, „Overview“ oder „Der 3.Ort“.
„Stadtsignaturen“ (2000) beschäftigte sich mit der Bedeutung, die eine Kultur der Vernetzung für eine Stadt hat, wenn diese sich mit Bedingungen konfrontiert sieht, die nicht mehr „hausgemacht“ sind.
„Overview“ (2002) bezog sich auf den „Overview Effect“ – einen Begriff aus der Raumfahrt für Erlebnisse einer radikalen Änderung der Perspektive auf zwar theoretisch Bekanntes, das aber in direkter Wahrnehmung noch nicht reflektiert wurde.
„Der 3.Ort“ (2003) unterstellte, dass die Beziehung, in die sich Orte zueinander setzen (bzw. in die sie gesetzt werden), auch unabhängig von den konkreten Bezugnahmen verbindliche Bedingungen für die jeweiligen Handlungen „vor Ort“ erzeugt.
Themen also, mit denen sich systemisch organisierte oder eben „MedienKunst“ schon infolge ihrer Organisationsform befasst.
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Nun werden die Entwicklungen der technologischen Kultur vor allem als Krisen wahrgenommen, wenn Neues im Vertrauten Platz greift oder Vertrautes sich als unbeständig erwiesen hat. Darüber hinaus wächst das Potenzial einer Krise mit der Kraft der Ignoranz, die gegen Veränderung gewendet wird; sie führt zu einem Überdruck. Kulturelle Veränderungen, die folglich in das Leben „explodieren“, sind in der Regel katastrophal. Die Unmöglichkeit, Veränderungen (bei deren Explosion) zu ignorieren, ist immanenter Teil der Krise. Dabei handelt es sich immer auch um eine persönliche Krise, da mehrheitlich die Identifikation mit den Lebensumständen – Beruf, Familie, Wohnort – das Selbstverständnis, die Identität, prägt und kulturelle Explosionen meist zu einer Verletzung der Identität führen. So gesehen, ist die technologische Kultur eine Kultur der Krisen.
In der Regel handelt es sich dabei um Formen einer erlebten Störung der gelebten Rhetorik der Autonomie. (Wenn es also nicht dabei blieb, dass es ist wie es ist, weil es ist, wo wir sind; so oder ähnlich….) Judenburg hat z. B. innerhalb dreier Jahrzehnte drei Mal entsprechende Erfahrungen gemacht.
— Eingeleitet wurde diese Reihe mit dem Verlust der traditionellen Basis des gesellschaftlichen Gefüges der Stadt, als im Zuge der Stahlkrise in den 1980er Jahren der Standort der eisenverarbeitenden Industrie zusammenbrach.
— 20 Jahre danach wurde die Autonomie-Fiktion, diesmal durch den Handel, ein weiteres Mal desavoiert: am deutlichsten durch ein Einkaufszentrum vor der Haustür, in der Nachbargemeinde; für eine Kleinstadt, die nach der Stahlkrise auf ihr zweites wirtschaftliches Standbein, den Handel, zurückgeworfen wurde, etwas nicht gerade leicht zu Bewältigendes.
— Und bei der jüngsten Volkszählung schrammte Judenburg knapp an der 10.000- Einwohner-Grenze und damit an den haushaltsbudgetären Konsequenzen (weniger Zuweisungen aus dem Finanzausgleich) vorbei. Stichwort: Abwanderung.
Was war ausschlaggebend dafür?
Letztendlich das Korsett einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und „kulturellen“ Monokultur – auch in der Zeit. Das heißt: die Annahme, dass die heutigen Gegebenheiten für morgen ungebrochen verbindlich sein würden. Darin hat der ländliche Raum mehr als der urbane Modellcharakter für die Entwicklungen der technologischen Kultur.
Dieser Modellcharakter führt sich u. a. auf den stärkeren Widerstand gegen kulturelle Veränderungen und die Explosivität der Auswirkungen solcher Veränderungen zurück, was nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit der statistischen Verteilung der Betroffenen steht. So etwa erleidet eine Stadt, deren Einwohnerzahl durch Abwanderung von 20 Jugendlichen unter 10.000 sinkt, naturgemäß stärkere wirtschaftliche Einbußen als eine Stadt mit 200.000 Einwohnern, der 200 Jugendliche den Rücken kehren.
Ich kann zwar nicht mit einer soziologische Formel dienen, habe aber so im Gefühl, dass im größeren urbanen Zusammenhang ab dem Moment die Selbstorganisation einsetzt, ab dem im Kleineren die Abwanderung beginnt bzw. je nach Möglichkeit der Wunsch zu verschwinden soziale Haltungen generiert. In dieser „soziodemografischen Zone“ scheinen mir Städte in der Größe von Judenburg situiert. Umso größer sind Herausforderung und Verantwortung, egal ob im gesellschafts-, wirtschafts- oder kulturpolitischen Bereich.
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Medienkunst, in der sich Techniken zu ästhetischen Systemen verbinden, ist die Kunst der technologischen Kultur.
Wie das Translokale ist das Lokale integrierender Teil der technologischen Kultur. Deswegen ist der Rekurs auf das Lokale (wie das Translokale) in der Kunst der technologischen Kultur kulturell verbindlich – im Unterschied zur konventionellen Kunst, die primär der Hermeneutik ihrer Traditionslinien folgen muss, um sich nicht der für sie weitaus stärkeren Gefahr der „Provinzialität“ auszusetzen. Ein Gemälde vom Stadtturm von Judenburg hätte bestenfalls vor Ort Bedeutung, für die Kunst wäre das Werk zweifellos weniger relevant. Allerdings könnte die örtliche Bedeutung des Stadtturms in die Kunst hinein und über den Ort hinaus transferiert werden, wenn der Turm als Wahrzeichen und akustischer Signalgeber für spirituelle und Alltagsereignisse zu seinem Pendant in der Partnerstadt Massa e Cozzile in Beziehung gesetzt und diese „irgendwie“, akustisch, visuell … nicht nur formalisiert, sondern auch funktionalisiert würde. Diese Möglichkeit, lokal und zugleich kulturell verbindlich zu agieren, macht die Medienkunst m. E. zur bedeutendsten Kunstform (nicht nur) für den ländlichen Raum.
Mit Medienkunst geht allerdings erfahrungsgemäß eine Irritation des „kulturellen“ Selbstverständnisses im ländlichen Raum einher. Irritiert wird eine durch die landläufige Praxis bestätigte Vorstellung von Kunst: Irgendwo macht irgendjemand aus unerfindlichen Gründen etwas, das dann an einem Ort in Erscheinung tritt, an dem sich die Gelegenheit bietet. Kunst erscheint so primär als das Andere – in einer Galerie, in einer Bank, im Konzertsaal -, als etwas, das parallel, ohne Verbindung zum Eigentlichen, der alltäglichen Welterfahrung, existiert. Für Medienkunst ist jedoch gerade diese Verbindung Grundlage ihrer Existenz.
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Warum erscheint Medienkunst so anders, als man es von Kunst gewohnt ist?
Kurz: Weil Medienkunst in Form bringt, was die Dinge miteinander verbindet, während konventionelle Kunst ein Ding schafft, das auf eine Verbindung verweist.
Ganzkurz: Konventionelle Kunst ist ein Ding, Medienkunst ist eine Beziehung, in der Dinge zueinander stehen.
Der Unterschied gründet in den verschiedenen Auffassungen davon, wie die Welt sich mitteilt, dass sie uns etwas angeht – als Realität oder als Wirklichkeit. Während Realität von „res“ = „Sache“ sich herleitet, referiert Wirklichkeit auf „Wirken“, ein Wirkungsgefüge zwischen den Sachen – die Domäne der Medienkunst. Medium meint ein Dazwischen.
Traditionelle Kunst setzt sich einem Publikum wie eine persönliche Überzeugung davon, was es mit den Dingen, den Themen der Werke, auf sich hat, entgegen: Hier das Bild, da der Betrachter, der sich also immer mit der Vorstellungswelt des Künstlers konfrontiert sieht, egal, ob das Thema nun die Farbe blau, Kunst, Zeit, Blumen, Malerei, Liebe oder Wetter heißt. So realisiert sich die Deutung der Dinge als eine zumeist emotional einsichtige Sache: als Bild, als Skulptur, als Musikstück …, wovon man sich mehr oder weniger überzeugen lässt.
Als Medienkunst setzt sich Kunst gleichsam zwischen die Dinge und nimmt als deren Zusammenhang Gestalt an. Sie setzt sich in Beziehung – zum Betrachter, zu den Dingen; sie realisiert nicht, sie prozessiert Wirklichkeit als ein Wirkungsgefüge. Und Zusammenhänge manifestieren sich dinglich nun einmal weniger in Form eines Bildes, einer Skulptur oder von Musik … . So entgrenzt sich der Modus der traditionellen Form (in) der Kunst, und anders als der traditionelle Gestalter eines Dinges agiert der Medienkünstler eher als Mediator.
Daher das Selbstverständnis des Projektes Liquid Music, nicht nur am Ort, sondern in Beziehung zum Ort zu sein, Medienkunst nicht nur herzubringen oder ins Werk zu setzen, sondern mit der Stadt zu verwirklichen. Wenn wir also die Identifikation der Stadt mit Liquid Music unsere Utopie nennen, dann gemäß dem Grundprinzip, Medienkunst über die Kunst hinaus zu verwirklichen. Entgrenzung zählt – wie gesagt – zu ihren konstitutiven Eigenschaften.
Als traditionelles „Wirkungsgefüge“ der Kunst gilt ihr eigener Begründungsapparat, das „System Kunst“. Darin erhält ein Werk beispielsweise zum Thema Blau à la Yves Klein systemimmanent den „tieferen Sinn“, auf den es sich außerhalb schwerlich berufen könnte. Medienkunst hingegen bezeichnet den Modus, in dem Kunst Sinn und Form durch Wirklichkeit bezieht. Neu und ungewohnt erscheint sie, weil sie durch Zusammenhänge, über die noch keine weitgehende Übereinkunft herrscht, in Erscheinung tritt. Sie ist aktuell im Sinne des englischen „actuality“ für Wirklichkeit.
Würde Kunst in einer Zeit, die allgemein als eine des Wandels firmiert, ihre alten Strukturen tradieren, käme das der Behauptung gleich, dass alles beim Alten bleibe. Im Leugnen der Welt aber realisiert sich Unterhaltung im schlechtesten Sinne. Von Kunst zu verlangen, dass sie beim Alten bleibe, hieße gleichsam ihr die Behauptung abzuverlangen, dass sich die Sonne um die Erde dreht.
Kunst zu negieren, die sich der Wirklichkeit annimmt, gleicht einer Haltung, in der das Thema Bildung ad acta gelegt würde, weil aus der Pisa-Studie hervorgeht, dass das allgemeine Unterhaltungsangebot für Schüler interessanter ist als das Bildungsangebot. Eine Kultur, in der Unterhaltung die Haltung bestimmt, braucht sich über die Pisa-Ergebnisse nicht zu wundern!
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Die Utopie des „Projektes Medienkunst in Judenburg“ ist im Hinblick auf die Identifikation der Stadt mit dem Projekt eine Art 4dimensionale Kirchturmpolitik. Sie bezieht ihre Strategien aus der Vorstellung, dass wir sind, was wir in Beziehung zu dem Anderen sind, das sich unserem Einfluss entzieht. Und das nicht nur bezüglich der gegenwärtig zu beobachtenden Bedingungen, sondern auch der Bedingungen, die sich der Beobachtung prinzipiell entziehen und nur bis zu einem gewissen Maß durch Projektionen ersetzen lassen – also in Bezug zur Zukunft, einem offenen Möglichkeitsfeld, zur „potenziellen Krise“.
4dimensional ist eine Kirchturmpolitik, wenn durch sie Identität aus der Verbindung des Gegebenen mit dem Anderen Möglichen erzeugt wird (1dimensional, wenn sie sich im Widerstand gegen das Offene begreift. Darin unterscheidet sich Provinzialismus in nichts von jenen großen utopischen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Projektionen, eingedenk deren Scheiterns Popper für das Unbestimmte, Unsichere als Alternative plädiert hat. Medienkunst, die vielfach aus möglichen, auch unerwarteten Verbindungen Gestalt bezieht, verleiht dieser Idee Form.
Es gibt da einen Witz, der geht auf Kosten der Politik ungefähr so:
Was ist Physik? Wenn man versucht, in einem schwarzen Raum die Existenz einer schwarzen Katze nachzuweisen.
Was ist Religion? Wenn man überzeugt ist, dass sich in einem schwarzen Raum eine schwarze Katze befindet.
Was ist Politik? Wenn man ruft, wir haben sie gefunden!
Erweitert man den Witz auf die Kunst, dann ist traditionelle Kunst der Glaube an ein Konzept, das es erlaubt, ein Bild von der Katze zu entwerfen,
Medienkunst hingegen würde durch den Versuch repräsentiert, die Möglichkeit, dass sich in einem schwarzen Raum eine schwarze Katze befindet, zu veranschaulichen.
Traditionelle Kunst hat also einen eher der Religion und den großen Utopien verwandten Ansatz; Medienkunst ist dagegen eher wissenschaftlich motiviert, skeptisch.
Wie auch immer: Ginge es uns bei Liquid Music bloß um die Präsentation guter Beispiele für Medienkunst, wäre unser Anliegen, das wir durch den Zugriff auf einen großen Fundus einlösen könnten, lediglich durch den monetären Spielrahmen begrenzt. Wir hätten ein „relativ“ leichtes Leben. Wir würden uns an einem Ort orientieren, an dem der Spielrahmen am größten und unser Leben am leichtesten wäre. Dieser Ort wäre bestimmt nicht Judenburg! Wir würden abwandern.
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Notes
* Was im Grunde eine nicht unerhebliche Frage wäre!
** Name des seit 1989 bestehenden Festivals mit Schwerpunkt Klassische Musik in Judenburg.
*** Name des seit 1968 bestehenden Mehrsparten-Festivals moderner Kunst in Graz.