„Wintermute was hive mind, decision maker, effecting change in the world outside.“
(William Gibson, Neuromancer)
William Gibson beschreibt in seinem 1984 erschienenen Roman „Neuromancer“ eine Künstliche Intelligenz namens Wintermute, die darum kämpft, sich aus der digitalen Welt in die analoge zu befreien. Was vor 40 Jahren als ein Produkt der kreativen Phantasie eines Science-Fiction Autors entsprungen schien, wurde erst jetzt zu einer Technologie, die sich realiter verselbständigt und fortpflanzt, etwas, das bislang dem reproduktiven Traum abstrakter Männlichkeit vorbehalten war.
Kaum etwas hat sich in den letzten drei Jahren dermaßen rasant entwickelt und so viele Ängste und Kontroversen hervorgerufen wie Künstliche Intelligenz. Die KI als schöpferische Instanz durchdringt und erobert alle kulturellen Ebenen der Gegenwart, befreit sich von der theoretischen Verpackung der Vergangenheit. Sie wird utopisch. Und dystopisch. Und alles gleichzeitig. Künstliche Intelligenz (KI), Big Data und Deep Learning sind Faktoren unseres Lebens geworden. Sie sind da, egal ob willkommen oder nicht, sie handeln, lernen, entwickeln sich. Sie agieren subkutan. Anhand von KI sehen wir eine eminente Diskrepanz zwischen der Richtung, in die sich Menschen und Gesellschaften entwickeln, und dem starrsinnigen Festhalten an traditionellen, überkommenen Lebensmodellen.
Wintermute and Neuromancer ist eine Ausstellung über Künstliche Intelligenz, generative Systeme und Cyberspace in der Kunst. Über KI-Werkzeuge wie text to image, to sound, to music und ihre vielfältigen Anwendungen in der Kunst. Die Fragestellungen von Deep Fakes bis künstlich generierte Emotionen (können wir Daten fühlen?) werden kritisch beleuchtet, auf der Suche nach Strukturen der Zusammenarbeit zwischen KI und Mensch. Wir stellen dies dem dystopischen Aspekt der KI-Anwendungen gegenüber: deren extensiven Gebrauchs in Überwachung, Datenauswertung, Profiling.
„Denn es gibt keine Künstliche Intelligenz per se – KI ist ein Paradigma von trainierten Modellen, Methoden, Theorien, so wie die menschliche Kultur die Gesamtheit der kreativen
Interpretationen der Welt und seiner selbst ist.“ (Merzmensch)
Ausstellungsfotos: Michael Michlmayr

Emanuel Gollob, disarming
Video, 2022, 27‘31“
disarming erforscht das performative Verhältnis von abgetrennten Roboterarmen, künstlichen Umwelten und menschlichen Beobachter:innen, wie auch mögliche zukünftige Rollen von Robotik in unserer Gesellschaft. Spielerisch wird die Mehrdeutigkeit des „Ent-Armens“ als ein Prozess der physischen Loslösung und emotionalen Bindung ausgelotet.
In einem abgeernteten Maisacker versucht die von ihrem technologischen Träger abgetrennte Gliedmaße eines Roboters sich auf neue Weise fortzubewegen. Obwohl ursprünglich gar nicht dazu geschaffen sich autonom zu verhalten, durchläuft der robotische Organismus einen Prozess des motorischen (Ver)Lernens und wirkt dabei verletzlich wie entschlossen.


Irradiation/Thomas Wagensommerer, Silver Ghosts
3-D Computeranimation, 2020, 5‘05“ Video: Wagensommerer, Sound: Irradiation
Die Weite der Raumzeit ist das zentrale Thema des Albums Xeelee, aus dem Silver Ghosts stammt, der Wiener elektronischen Musikerin Irradiation. Inspiriert von Hard-Science-Fiction-Literatur verwandelt sie wissenschaftliche Theorien der Kosmologie und Quantenphysik in Musik. Das Album bezieht sich auf die Xeelee-Sequenz, eine Reihe von Geschichten des britischen Autors Stephen Baxter.
Stellen Sie sich ein Universum vor, das von einer rätselhaften außerirdischen Rasse aus Techno-Bildern beherrscht wird, die Sie vielleicht nie zu Gesicht bekommen oder sich nicht vorstellen können – ihre Zivilisation ist zu weit fortgeschritten und zu alt. Sie existiert fast seit Anbeginn des Universums, seit Milliarden von Jahren, und ist an Projekten beteiligt, die das fragile Gefüge der Raumzeit selbst bedrohen. Ist es möglich, dass diese Außerirdischen all dies für ein höheres Gut tun? Menschen neigen dazu, zu zerstören, was sie nicht verstehen. Dunkle Zeiten stehen bevor.
Margarete Jahrmann/Stefan Glasauer, TREE[AI]D, BUZZER Game für eine verträgliche Welt
Interaktive Installation, 2024
ZUFALL und Glücksspiel (DARK PATTERNS des Game Design) erlauben aus dem künstlerisch forschenden Blickwinkel den souveränen Umgang mit AI: Im Vorbeigehen löst das Publikum fünf Zufalls – Worte aus. Daraus entsteht ein neuer prompt für ein Bild von einem Baum – trainiert mit den Zeichnungen von Margarete Jahrmann. Stefan Glasauer hat ein eigenes Interface generiert, das eine poetische Bildbeschreibung aus der Zufallszahl schafft. Zufall erlaubt FREIHEIT im Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Diese freien Entscheidungen brauchen wir – um neue Bäume wachsen zu lassen. Wenn Sie das durch Ihre Präsenz geschaffene Bild für eine Spende erwerben, geht ihr Beitrag an TREE:AID – für einen neuen Baum.


Merzmensch (aka Vladimir Alexeev), Neon Seclusion
Videogedicht, Koautor: KI, 2024, 2‘15 “
12 Inkjetprints, 2023/24, 50 x 50 cm, gerahmt
Haben Maschinen eine Seele? Träumen sie von elektrischen Schafen? Können Maschinen menschlicher werden? Und umgekehrt: Können Menschen maschinenähnlicher werden? Wo verlaufen die Grenzen zwischen uns, wo gibt es Überschneidungen? Der Künstler, Autor und Forscher Merzmensch untersucht diese tiefgreifenden Fragen an der Schnittstelle von Kunst, künstlicher Intelligenz und unserer gemeinsamen Realität.
Der Name „Merzmensch“ selbst ist inspiriert vom Dadaismus und Kurt Schwitters revolutionärem Multimedia-Konzept der „Merz“-Kunst, das sich auf die Schaffung neuer Bedeutung aus vorhandenen Materialien konzentrierte. Die in dieser Ausstellung präsentierten Werke untersuchen die sich entwickelnde Beziehung zwischen Mensch und Ma-
schine aus einer postanthropozentrischen Perspektive – in der Erkenntnis, dass der Mensch nicht die Krone der Schöpfung ist (und nie war). Durch die Vermischung verschiedener Techniken und Sprachen verdeutlicht Merzmensch, wie die Kultur in dieser neuen Ära der kreativen Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine zunehmend globalisiert wird.
Bob L.T. Sturm, Music from the Spam Folder
Klanginstallation, KI-generierter Sound, 2024, 11 Tracks, 25‘30“
KI-generiertes CD Cover
Interaktive Installation: Norbert Math
Diese Klangerlebnisse (ausgewählte Tracks aus meinem Album „Music from the Spam Folder“, veröffentlicht im November 2024) sind das Ergebnis der Kollision meiner Junk-Mail (Spam) mit modernster prompt-basierter KI-Musikgenerierungstechnologie. Ich finde die Ergebnisse spielerisch und provokativ, aber auch verstörend und schön. Sie erforschen Themen wie Identität und Nostalgie, Paranoia und Katastrophen, Einsamkeit und Sehnsucht. Ein unerwartetes Ergebnis dieser Arbeit ist, dass mir die mit Musik unterlegten Spams die anonymen Autoren sympathisch machen – sie geben ihnen Persönlichkeiten und machen mich so mitfühlend. Deshalb antworte ich jetzt auf meine Spams mit einem Link zum Album, damit sie wenigstens wissen, dass ich es zu schätzen weiß, dass sie an mich denken. (Bob L.T. Sturm).
https://bobltsturm.bandcamp.com/album/music-from-the-spam-folder


Thomas Wagensommerer, 10O-NOI
Skulpturales Videoobjekt, 2021, 60′00″
Am 9. März 2016 trafen Lee Sedol und das Programm AlphaGo (entwickelt von DeepMind) in einem Go-Turnier aufeinander. Dieses Duell Mensch gegen Maschine sollte die Handlungsfähigkeit (bzw. Dominanz) des Programms im direkten Einsatz gegen einen der weltbesten Go-Spieler demonstrieren. In der zweiten Partie ereignete sich jener
entscheidende Moment, den diese Arbeit näher zu analysieren versucht.
AlphaGos Zug 37 markiert die Initiation dieses Augenblicks. Dieser Zug entsprach in keiner Weise den Erwartungen an das Programm und ließ sich auch nicht in die komplexe kulturelle und historische Entwicklung des Spiels Go einordnen. Er entzog sich jeglichem Vergleich und gilt als symbolischer Moment einer maschinellen Kreativität.
Lee Sedol erkannte die Signifikanz dieses Zuges und reagierte mit einer für ihn untypischen emotionalen Ambivalenz zwischen Faszination und Abneigung – ein Ausdruck, der sich für wenige Sekunden in seiner Mimik widerspiegelte. Dieser kurze Moment, der das Bewusstwerden dieser Zeitenwende beschreibt, bildet das Ausgangsmaterial der Arbeit. Durch verschiedene Algorithmen des maschinellen Lernens wird diese Sequenz auf 60 Minuten gedehnt. Dabei entstehen eine Vielzahl interpolierter Einzelbilder, die die durch die Dehnung entstandenen Lücken füllen. Dieses Ausdehnen offenbart ebenso die Leerstellen des Übergangs, die Artefakte des Dazwischen.
Textzitate: John Shirley, E.M. Foster, William Gibson
